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Metamorphosen und Korrespondenzen Zu den Zeichnungen von Gérard Titus-Carmel Gérard Titus-Carmel zeigt das Verborgene an der Oberfläche als sichtbare Spur, als sichtbare Geschichte der Zeichnung. Hier gibt es kaum Perspektive, kaum Tiefe. Alles ist offen und gleichzeitig einsehbar wie in einem Traum. Die Zeichnungen sind gleichwohl alles andere als eindeutig. Sie verweisen vielmehr auf Bereiche, in die sonst kein oder wenig Licht fällt. Und diese Geschichtendrehen sich buchstäblich um den Tag, die Jahreszeit, das Leben und den Tod. Und ihre Drehung, ihre Wendung geschieht in jedem Moment, in jede Richtung als Reflexion, als Linie, als Echo, als Schwung. Es sind Annäherungen an das Unvermeidliche, die mit Eleganz, Kraft und Zartheit auf die Reise gehen. Die Zeichnungen selbst verwandeln sich dabei von der Linie zur Schrift, zum Zeichen und zum Bild. Dazu gehört auch, dass die Zeichnung zur Collage wird und die Collage zur Zeichnung. Diese Metamorphosen reflektieren und zeigen den Übergang. Eine Zeichnung wird in eine Zeichnung gefügt, in die wiederum eine Zeichnung gefügt wird. Ein Zyklus aus dem Jahr 1999, der im Mittelpunkt der Ausstellung steht, heißt zu Deutsch „Winterquartier“. Hier versammelt Titus-Carmel sein zeichnerisches Reisegepäck und erforscht seine poetischen Bestandsaufnahmen. Ich erinnere mich, wie ich vielleicht zum ersten Mal die Welt der Zeichnungen von Titus-Carmel gesehen habe. Das war 2005 in Tours, wo die Stadt den Dichter Yves Bonnefoy mit zwei Ausstellungen feierte. In einer waren jeweils ein Raum einem Maler gewidmet, mit dem zusammen der Dichter ein oder mehrere Buchprojekte verwirklicht hatte: Pierre Alechinsky, Alexandre Hollan, Farhad Ostovani und Zao Wouki . Und als ich den Raum mit Zeichnungen von Titus-Carmel betrat, war ich sofort in ein Gewächshaus gehüllt, das immer wieder zu einem Buch sich verwandelte und dann in einen Urwald: alles in der Geborgenheit und Wildnis zugedeckt und ausgesetzt. Dazu die Stille und Stetigkeit des vegetativen Wachstums als ein anderes sichtbares Maß der Zeit. Und das Gefühl der Geborgenheit wie im Bauch des Wals. Das zu Zeiten ins Dekorative wechselnde Wachstum der Linie, der Fläche, der Farbe öffnet sich dann immer wieder im nächsten Moment in eine Wendung, in der alles seinen Namen verliert. Hier liegt ein Zentrum der Zeichnungen von Titus-Carmel, die unendliche Theorie der Tage, wie es der kanadische Kunstkrititker Michael Bishop auch im Titel seiner Monographie über den Maler und Schriftsteller Titus-Carmel formuliert. Auch Jacques Derrida hat in seinem Tagebuch zur Erkundung von The Pocket Size Tlingit Coffin“ - ausgestellt 1978 im Pariser Centre Pompidou - einen unendlichen Rahmen für die Expedition durch die Welten der Zeichnungen von Titus-Carmel gespannt, der u.a. Siegmund Freuds Traumdeutung, die Kabbala und Martin Heideggers Sprachphilosophie in neue Verbindungen bringt. Für mich sind die Zeichnungen Fragmente eines Augenblicks, die dynamisch und statisch, leicht und schwer, offen und verschlossen, melancholisch und geerdet zugleich sind. Je länger ich mit den Zeichnungen korrespondiere, je verzweigter wird unsere Beziehung und manchmal finde ich mich wieder als Linienschwung , als Liniengewirr auf weißem Papier und öffne die Augen: Es geht dann – wie selten zuvor – ums Ganze. Hans Martin Hennig zurück |